Astrid Dinges: In dir die Fremde

© Astrid Dinges

Sie saß immer dabei – weiß und blass – wenn wir zusammenkamen; und doch war sie keine von uns. Wenn wir untereinander redeten, dann las sie still in ihrem Buch und schaute nicht einmal auf, wenn sie von jemand angesprochen wurde. Ihr Buch schien offenbar grenzenlos interessant zu sein, wenn sie so innig und tief in seine Lektüre versank – anscheinend grenzenlos – ein Text ohne Grenzen. Der ist gefährlich.

Heimlich beobachtete ich sie und merkte, dass sie niemals eine Seite umblätterte. Sie blieb mit ihren Augen immer auf derselben Stelle. Die hatte es ihr angetan. Ich fragte mich, ob sie hinter den Zeilen im Buch in ihrem Kopf ihren eigenen Text schrieb, ihren Traumtext?

Obwohl ich ihr niemals ins Gesicht geschaut habe, weiß ich, dass sie schwarze Augen hat. Ich glaube, dass ich ihre Leblosigkeit fürchtete und mich deshalb mit allen Sinnen von ihr weg wand, aber mich gleichzeitig immer tiefer in sie versenkte, um ihr Geheimnis zu ergründen. Gern hätte ich sie gefragt, welches Thema sie sich ausgewählt hatte, welchen Text sie in ihrem Buch vor Augen fand. Aber dazu hatte ich nicht den Mut.

Ich kam von der weißen Frau nicht mehr los. Mich zog sie in ihren Bann. Neugier, Faszination, viel mehr noch als Interesse, eher Bezauberung machten sich in mir breit. Der geheimnisvolle Inhalt ihres Buches machte die ganze Gestalt für mich äußerst lebendig. Ich konnte Neugier und Rätsel um diesen Text nicht mehr loslassen. Die Herausforderung war stark, sich ein Stück näher zu ihr zu bewegen. Ich rückte zu ihr hin und nahm wahr, wie ihr Text, Verkehrungen geradezu herauf beschwor. Die Grenze war nicht mehr sichtbar: ich, ihr Text, sie und sie, ich, ihr Text und ich. Ich ahnte  immer klarer, dass ihr Text von der Metamorphose des toten Dichters zum Lebendigen handeln musste. Ich spürte den Zauber, der von ihm ausging, die Herausforderung, die die stille Tiefe dieser Figur begründete. Durch ihren farblosen Körper ohne Fleisch und Blut hindurch fühlte ich mehr und mehr ihre Lebendigkeit und gleichzeitig merkte ich das Wegfließen aller meiner Lebensenergie hin zu ihr. Ich hoffte auf die letzte Grenze. Sie zog mich hinüber und suchte mein Innerstes, und ich fand ihren Text. Schmäler und schmäler wurde ich am Körper, das Blut farblos in den Wangen und Adern. Die Augen gingen nach innen, und das andere Sehen begann. Ohne Zweifel hat eine Verwandlung stattgefunden. Die Lebensenergie konzentrierte sich nun im Innern. Hinter den Augen begann es zu säuseln und von irgendwo her kam ein Windchen. Es wurde mir immer klarer: ich bin wie in einem Bann. Aber ich war ihrem Thema auf die Spur gekommen: die Verwandlung vom toten zum lebendigen Dichter. Wie Schuppen fiel es von meinen Augen: Meine Gedanken wurden ruhiger und auf das Wesentliche fixiert, auf das, was ganz am Ende steht.