Elisa Wiesensee „Das Gehen und das Bleiben“

„Das Gehen und das Bleiben“ von Elisa Wiesensee wurde bei den Donnersberger Literaturtagen 2017 mit dem 2. Preis ausgezeichnet. Hier ein Auszug aus dem Text:

„Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.“
~ Mascha Kaléko ~

Sie knien auf dem Boden, auf den weißen Fliesen. Ihr Kopf lehnt an seiner Schulter, er hat die Arme um sie gelegt, hält sie so fest, als hätte er Angst, dass sie fallen könnte. Es ist still.

Irgendwo hinter der Tür frisst sich Silvesterlärm ins dämmrige Halbdunkel der engen Wohnung, aber das ist weit weg. Alles, was hinter der Tür passiert, gehört weit weg.

Ihre Finger berühren seine Hände, sacht. Sie will nicht losgelassen werden. Sein Atem brennt auf ihrer Haut, im Nacken, am Hals, dicht an ihrem Ohr.

Er spürt ihr Zittern und den knisternden Stoff ihres Kleides. Er schmeckt den Duft ihrer Haare auf der Zunge.

Stimmen und Schritte auf dem Flur, aus der Küche Musik und Gelächter. Durchs offene Fenster können sie hören, wie über ihnen der Himmel explodiert, in tausend Farben zerbricht. Die leuchtenden Stücke treiben zurück in die Tiefe.

Sein Herz schlägt zwischen ihren Schultern. Ihr eigenes flattert, als wäre es ein Kolibri. Sie schließt die Augen.

Er starrt auf die gekachelte Wand, mit weitem Blick, er kann nicht sagen, ob er alles fühlt in diesem Moment oder nichts. Ob es zu viel ist oder zu wenig.

Irgendetwas fehlt. Zeit vielleicht.

Draußen, am Ende des Flurs, wartet sein Mädchen auf einem Sofa mit verrutschtem Bezug. Sie wissen es beide, er und sie. Sie sprechen kein Wort davon, sie schweigen.

Würden sie nicht schweigen, dann wäre es ein Verbrechen.

Ihre Knie zwischen seinen wären ein Verbrechen. Seine Hand auf ihrem Bauch, die sich hebt, um ihre Wange zu streicheln.

Sie neigt ihr Gesicht und nimmt seine Finger in den Mund. Nicht hungrig. Sondern wie ein Kind.

Ohne Schuld.

Er betet, dass sie nicht zubeißt. Ihre Zähne streifen seine Haut, er holt Luft, aber sie tut ihm nicht weh.

Sie tut ihm nicht weh.

Sein Mädchen versucht, nicht gegen die geschlossene Tür zu starren. Oder das Lächeln des Jungen mit den schwarzen Augen zu erwidern. (Beides ist schwer.)

Es müsste traurig sein, hilflos, ein bisschen wie ein verletztes Tier. Es müsste schreien vor Angst und Wut. Aber es gerät bloß durcheinander.

Er ist in diesem Bad. Nicht allein.

Sein Mädchen möchte weinen und lachen, weil er das, was von ihnen geblieben ist, in hässliche Fetzen reißt. In schmutzige Fetzen.

Er hat nicht gezögert. Er will sie. Und sein Mädchen will ihn nicht, nicht mehr. Sein Mädchen hat vergessen, was es an ihm wollte.

Es zeigt dem Jungen mit den schwarzen Augen seine hübschen Zähne. Lockt den Jungen näher, näher.

Silvester.

Wie es weitergeht, können Sie in unserer Anthologie „Schicksal und Geschick“ nachlesen, die 2017 im Geest-Verlag erschienen ist unter der ISBN 978-3-86685-624-2.