Hans Vanselow: Stau-Ende

© Hans Vanselow

08:00 Uhr: Ludger rollte mit seinem 30 Tonner Sattelschlepper langsam auf den Zubringer zur A7. Er hatte die Nacht und damit seine vom Gesetzgeber verordnete Ruhepause auf dem Rastplatz zugebracht. Sein Ziel, das ContainerTerminal in Hamburg konnte er, wenn alles glatt ging in fünfeinhalb Stunden erreichen – aber wann ging schon alles glatt. Der Diesel unter ihm knurrte aufgeregt, als er auf die Autobahn einfädelte und wurde erst ruhiger, als er bei Tempo 80 km/h (+ Toleranz) den Tempomaten einschaltete. Die Strecke war belebt aber der Verkehr floss.  Sein Truck war ziemlich neu und mit allerlei Spielereien ausgestattet. Er verfügte nicht nur über den erwähnten Tempomaten sondern über auch über Fahrspurüberwachung und Rückfahrkamera.

„Jetzt fehlt nur noch eine Radaranlage, die alle Hindernisse vor uns erkennt und automatisch bremst. Dann haben wir bald gar nichts mehr zu tun“, hatte er geflachst, als er die Mühle übernommen hatte.

„Ich freue mich so auf die paar Tage an der Nordsee.“ Sibille räkelte sich auf dem Beifahrersitz und rieb sich die Augen. „Ich kann kaum glauben, dass es doch noch geklappt hat und wir ein paar Tage zusammen verbringen können.  Lange hatte es nicht danach ausgesehen, dann war ein Arbeitskollege ihres Mannes doch früher als vermutet genesen und Tobias hatte sofort im Personalbüro seinen zurückgestellten Urlaubsanspruch reklamiert.  Gestern Abend war er von der Arbeit heim gekommen, hatte seine Tasche in die Ecke gestellt und gerufen: „Hallo Schatz, pack die Koffer, wir fahren so schnell wie möglich weg. Stell dir vor, ich hab Urlaub, eine ganze Woche lang können wir noch zusammen genießen!“ Sie selbst hatte schon seit einer Woche frei und jeden Morgen gemault, wenn er sich von ihr verabschieden musste. Schnell waren die Koffer gepackt, sie hatten noch ein paar Stunden geschlafen und waren seit drei Stunden unterwegs, heute Morgen um fünf Uhr waren sie aufgebrochen.

„Marco, komm mal mit ins Büro“, fing der Chef ihn ab, bevor er in der Umkleide verschwinden konnte. Was war los, das war ungewöhnlich, denn eigentlich betonte der Boss immer, dass seine Leute erst dann für ihn existierten, wenn sie umgezogen und arbeitsbereit waren. Hatte er etwas ausgefressen? Ganz im Gegenteil, kaum hatte er das Büro betreten fragte sein Chef: „Hast du Lust auf eine Spritztour?“ Was für eine Frage. „Klar“, hatte er geantwortet, „immer.“ „Der 7er dort drüben“, er wies auf eine nagelneue, schwarz glänzende Limousine, „muss nach Hannover überführt werden. „Willst du das machen?“ „Aber sicher, mit Vergnügen.“ Dann überlegte er kurz und fragte: „Äh, und wie komme ich wieder zurück?“ „Hast du noch nie was von der Deutschen Bahn gehört? Geh rüber zur Kasse und lass dir einen Vorschuss für Fahrtkosten und Spesen auszahlen. Das war mal ein Job. Schon lange hatte er davon geträumt, einen dieser Boliden, die er sonst nur von ihrer technischen Seite her kannte, fahren zu dürfen. Erst vor ein paar Monaten hatte er die Facharbeiterprüfung als Mechatroniker erfolgreich abgelegt und er freute sich über jede Abwechslung zu seiner Arbeit. Jetzt durfte er sogar einen der ganz großen zähmen, weit über 200 PS schlummerten unter der schwarzen Motorhaube und er ganz allein durfte sie wach kitzeln.

Raststätte – 10 km, verkündete das große blaue VorabInformationsschild. „Dort hältst du aber an“, nörgelte sie, war er doch an der Letzten glatt vorbei gedüst.  „Versprochen“, war seine einsilbige Antwort.

Der Diesel schnurrte sein eintöniges Lied und Ludger hatte einige Mühe, konzentriert zu bleiben. Eben hatte er sich die letzte Tasse Kaffee aus seiner Thermoskanne genehmigt. Kälte half auch, die aufkeimende Müdigkeit in Schach zu halten, also drehte er die Klimaanlage auf 17°C runter. Auf dem Rastplatz hatte er nur wenig Schlaf finden können. Erst spuckte ein Reisebus neben ihm 40 schwatzende und lachende Menschen aus, um 39 davon zwanzig Minuten später mit gleichem Geplapper wieder einzusaugen. Es wurde lautstark gezählt und als endlich feststand, dass es wirklich nur 39 waren, noch lauter nach dem Trödler gegrölt. Irgendwann war der dann entsprechend begrüßt, auch eingetrudelt und es wurde ruhiger.  Kaum eingeschlafen donnerten zehn, fünfzehn schwere Motorräder vorbei, deren Biker krampfhaft versuchten, die Drehzahl ihrer Motoren möglichst hoch zu halten.  Freiheit auf der Autobahn! Trucker, ein Traumjob!?

Die Tachonadel spielte permanent zwischen 180 und 200 km/h und die leistungsstarke Phono-Anlage hämmerte ihm die Beats in die Ohren. Seine Cap wie gewohnt verkehrt herum aufgesetzt genoss er die wilde Fahrt. Meist schoss er links aber wenn es sein musste auch rechts an den Schleichern, wie er die nannte, die sich an die Geschwindigkeitsvorgaben hielten, vorbei. Wie eine schwarze Raubkatze schlängelte sich die schwere Limousine gewandt durch das Gewühl aus PKW und LKWs. „Fahr vorsichtig“, hatte ihn sein Chef noch ermahnt, aber die

Karre war doch genau für dieses Spiel konstruiert, dem Spiel mit Gas und Bremse, möglichst wenig Bremse – nach seiner Philosophie.

„Ich werde mal unsere Nachbarin bitten, ab und zu nach unserem Briefkasten zu sehen“, erklärte Sibille und beschäftigte sich mit ihrem Smartphone. Als sie wieder aufblickte sah sie vor sich nur noch rot. „Pass auf die bremsen!“, schrie sie entsetzt.  „Nur die Ruhe, ich hab’s gesehen“, brummte Tobi und brachte ihren Van auf der rechten Spur zügig zum stehen. Es war ein Stau aus heiterem Himmel, von 130 km/h auf Null, auf beiden Fahrspuren. Ohne erkennbaren Grund kam der Verkehr zum Stillstand. Hoffentlich mussten sie jetzt nicht stundenlang wegen eines Unfalls auf der Autobahn rumstehen. Sibille würde ihm die Ohren lang ziehen, schließlich hatte sie schon länger Toilettenbedarf angemeldet.  Er blickte in den Rückspiegel und erschrak. Au, au, au, das kann nicht gutgehen! „Sibille halte dich fest!“, schrie er und presste sich schutzsuchend in den Sitz.  „Warum was ist?“, fragte sie und wollte zurückblicken. „Um Himmels Willen nicht umdrehen!“, brüllte er gegen die jetzt einsetzenden Geräusche kreischender Bremsen und quietschender Reifen an.

Immer wieder rieb er sich über die Augen. Er brauchte unbedingt noch Kaffee, zur Not eben einen Löslichen. Wasser heiß machen war kein Problem, dazu hatte er das geeignete Gerät neben sich. Er zählte das Granulat löffelweise in die Thermosflasche. Eins, zwei, drei, vier Löffelchen pro Tasse und noch einen Gehäuften extra zum wach bleiben. Irgendein Instinkt riet ihm, mal wieder einen Blick auf die Straße zu werfen und dann gefror das Blut in seinen Adern. „Scheiße!“

Schneller als er denken konnte stand sein Fuß auf der Bremse doch genauso schnell wurde ihm klar, dass er seinen Truck nicht mehr rechtzeitig zum Stehen bringen konnte. Die Rückleuchten des grauen Van kamen immer näher. Die Menschen! Was konnte er tun? Verdammt, 25 Meter, 20 Meter! Die Standspur! Der Truck schlingerte bedrohlich, als er ihn scharf nach rechts zwang, aber er konnte ihn abfangen und bremsen.

„Langweiliges Gedudel!“ Auf keinem Sender liefen seine Lieblings-Songs. Gut, dass er seinen USB-Stick dabei hatte. Auf dem Display leuchtete das bekannte Menü auf, als er das Teil in die dafür vorgesehene Buchse gefummelt hatte, während die Tachonadel für ihn moderate 150 km/h streichelte. Ein schneller Blick auf die Straße. Der bremst, verdammt, der bremst, warum bremst der Idiot. Höchstens hundert Meter vor ihm kam gerade ein Cabrio zum stehen, direkt neben einem grauen Van. Marco stand voll auf der Bremse und erkannte augenblicklich, dass es nicht reichen konnte. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg, nach einem Schlupfloch und neben ihm bremste genau so verzweifelt ein riesiger LKW. Ob es nach dem Aufprall, der unweigerlich erfolgen musste, eine Chance für ihn gab, zu überleben? Für die im Cabrio – wohl eher nicht. Ob die überhaupt mitbekommen, was ihnen gleich blüht? Es gab keine Lücke – oder etwa doch? Eben schlingerte der Truck auf die Standspur und damit öffnete sich ein winziges Tor zwischen dem Van und dem LKW; ein Tor, das vom Truck in zwei, drei Sekunden geschlossen sein würde. Der Motor seiner Limousine heulte gequält auf, als er das Gaspedal bis zum Anschlag trat.

Der Rückspiegel zeigte eine dramatische Filmsequenz in der sie mitspielen mussten, leider nur als passive Statisten.

Jetzt füllte der LKW das gesamte Bild aus! Gleich, gleich musste es krachen. Sollte er noch etwas sagen? Sibille! Sie hatte nach hinten keine Augen. Da, der Laster verschwand aus dem Bild! Wohin? Die Standspur! Er war auf die Standspur gewechselt und die war Gott sei Dank frei. „Puh das…“ die Worte blieben ihm förmlich im Halse stecken als plötzlich aus dem Nichts diese pechschwarze Limousine auftauchte. In voller Fahrt wenige Meter hinter ihnen aber schräg zu ihrem Heck. Will der etwa noch an dem LKW vorbei, den LKW überholen? Unmöglich!

Ludger atmete durch. Er hatte seinen Truck im allerletzten Moment aber letztlich sauber auf die Standspur gebracht und wollte ihn nun ganz entspannt zum stehen bringen. „Gut gemacht“, beglückwünschte er sich zu seiner Glanzleistung. Das mit dem Kaffee war nicht so doll, aber das musste ja niemand wissen. Kaffee würde er jetzt so schnell keinen mehr brauchen, das Adrenalin würde ihn eine ganze Weile wach halten. Doch was war das jetzt? Links neben, unter ihm heulte ein Motor auf. Während er mit dem Abfangen seines schleudernden Gefährts beschäftigt war, hatte er den Verkehr hinter ihm nicht weiter beachtet. Ganz kurz nur bemerkte er, wie ein schwarzes Etwas vor ihm, zwischen dem Van und seinem Truck durchhuschte. Ludger trat wieder voll auf die Bremse. Da war doch einer lebensmüde!

Wie die Backe einer riesigen Presse, so schob der Laster die Lücke immer enger. Links der Van, rechts der LKW und vor ihm die Leitplanke. Einer der drei, das war sicher, würde ihn erwischen, mindestens. Wenn er es nicht schaffte, im letzten Bruchteil einer Sekunde noch durchzuwitschen, würde er zwischen Van und LKW zermalmt in die Leitplanke krachen. Er hatte es vergeigt, gründlich. Sollte er am Leben bleiben, den Job war er mit Sicherheit los – verdammte Raserei, und die Lücke wurde immer enger.

Sibille, die inzwischen mitbekommen hatte, dass die Gefahr durch den LKW abgewendet war, wollte sich gerade entspannt aufsetzen als er ihr ein verzweifeltes: „Bleib!“ zuschrie. Seine Stimme überschlug sich und erschreckt duckte sie sich wieder. Ihre Frage warum brauchte sie nicht mehr zu stellen, denn genau neben ihr krachte eben ein Auto in die Leitplanke und schlitterte Funken stiebend daran entlang, dicht verfolgt von einem verzweifelt bremsenden LKW.

Er fühlte, dass er es geschafft hatte, er war tatsächlich noch vor dem LKW geblieben. Im letzten Augenblick riss er das Lenkrad nach links um den Winkel zur Leitplanke zu verringern. Es krachte erbärmlich, als der schwere Wagen seine Form verlor um dann, Metall auf Metall kreischend an der Leitplanke entlang schrammend 150, 200 Meter weiter endlich zum Stehen zu kommen, der Truck nur wenige Meter hinter ihm.

Marco blieb betäubt sitzen. Er hatte gewaltigen Mist gebaut, soviel war klar. Aber hatte er nicht durch seine irrsinnige Reaktion, wenn nicht ihr Leben, so auf jeden Fall die Gesundheit der Insassen der vor ihm stehenden Autos erhalten?  Ganz sicher hatte er das, aber Danken – Danken würde ihm vermutlich niemand dafür.