„Der Flug der Schwalben“ von Anja Schneider wurde bei den Donnersberger Literaturtagen 2017 mit dem 3. Preis ausgezeichnet. Hier ein Auszug aus dem Text:
Sie stand am Fenster ihres Hotelzimmers und sah gedankenverloren dem Flug der Schwalben zu. Wunderschön ließen sie sich vom Wind tragen und schraubten sich dabei in konzentrischen Kreisen immer höher. Sie dachte an ihren Garten zu Hause, in dem ihre sechs Jahre alte Tochter jetzt sicher unter dem großen Apfelbaum im Gras liegen und durch die Äste hindurch ebenfalls die Schwalben und die Wolken beobachten würde. „Mama, weißt du warum die Schwalben so hoch fliegen?“, hörte sie sie in Gedanken fragen. „Nein, mein Schatz, weißt du es?“ „Na, sie wollen den Himmel berühren und herausfinden, ob die Wolken aus Zuckerwatte sind!“ Und dann stellte sie sich vor, würden beide laut loslachen. Wie schön wäre es, wenn sie mit ihr gemeinsam diesen wunderschönen Frühlingsnachmittag genießen könnte.
Missmutig wandte sie sich vom Fenster ab und schaute sich im Zimmer um. Es machte einen schlichten, aber dennoch angenehmen Eindruck auf sie und bot einigen Komfort. Nicht alle Hotels, in denen sie in den letzten Jahren dank ihres Verlages untergebracht war, verfügten über einen Fernseher, geschweige denn über WLAN. Selbst die Tatsache, dass das Zimmer ein eigenes Bad besaß, ließ darauf schließen, dass ihre letzte Beschwerde wohl an der richtigen Stelle platziert war. Auf dem frisch mit weißen Leinen bezogenen Einzelbett, welches gegenüber dem Fenster stand, lag die aktuelle Tageszeitung. Vielleicht sollte ich mich um eine andere Stelle bewerben, dachte sie, während ihr Blick auf den rustikal anmutenden Schreibtisch mit ihrem darauf befindlichen Laptop fiel.
Sie steckte sich eine Zigarette an und dachte über das Buch nach, dessen Abgabetermin bereits in greifbare Nähe rückte. Ihrem Verleger hatte sie gesagt, dass sie nur noch einen passenden Abschluss schreiben müsse, dann würde sie es ihm per Einschreiben zukommen lassen. Doch in Wirklichkeit hatte sie noch nicht einmal die Hälfte des Buches fertig. Ihr wollte einfach nicht einfallen, wie die Geschichte einer Frau, die alles verloren hatte, enden sollte. Sie hatte den gewissen roten Faden verloren und war nun krampfhaft auf der Suche nach ihm. Doch etwas schien sie zu blockieren, ja regelrecht vom Schreiben abhalten zu wollen. Herr Schwarz, ihr Verleger, hatte ihr empfohlen ein paar Tage aufs Land rauszufahren, zu entspannen und dabei neue Kraft zu tanken. „Die Ideen kommen dann schon von ganz allein!“, hatte er mit einem Augenzwinkern und einem gewinnenden Lächeln gesagt. Vielleicht hatte er Recht.
…
Wie es weitergeht, können Sie in unserer Anthologie „Schicksal und Geschick“ nachlesen, die 2017 im Geest-Verlag erschienen ist unter der ISBN 978-3-86685-624-2.