© Winfried Anslinger
Jedes Jahr derselbe Ausblick. Die Bucht, der Leuchtturm, der Strand hinter der Thujenreihe, die wieder ein wenig gewachsen ist, ihr würziger Duft weht zum Fenster herein. Die Sonne sticht, es ist neun Uhr und ich geh heute nicht runter zum Frühstück. Der Kalender zeigt wieder den sechsten Oktober. Heute hört man den Zorn der Brandung bis hier herauf, denn das Wetter ist umgeschlagen. In Rudeln streichen kleine Böen ums Haus, heulen und bellen.
Als Alex nach zwei Stunden immer noch nicht zurück war, rannte ich voller Panik den Strand herauf. Madame Nyons, die an der Rezeption noch Wache hielt, schüttelte den Kopf: „Warum haben Sie so lange gewartet?“
Die Seenotrettung hatte längst Feierabend, ablandige Strömungen, hieß es, raue See, nicht ungewöhnlich in dieser Jahreszeit – wie soll man jemanden auf dem Meer finden bei einbrechender Nacht?
Seinen angelesenen Roman hat er zurück gelassen. Badetuch, Rasierzeug, seine Familie, die mich hasst. Eine melancholische Gedichtzeile, mit Lippenstift auf den Spiegel geschrieben. Es muss einen Grund geben.
Zehn Jahre. Vorhin habe ich mein Zimmer für nächstes Jahr reserviert. Wenn Madame sich über ihrem Terminkalender die Brille aufsetzt, scheint auch für sie keine Zeit verstrichen zu sein. Sie hat die zwei, drei Tage immer schon mit Bleistift markiert. Beiläufig sagte sie, heute Nacht hätte ich wieder geschrien.
Dann hab ich es diesmal gleich hinter mich gebracht. Sie wird mir wieder ihr pflanzliches Mittel empfehlen, das man rezeptfrei im Ort bekommt.
Ich bin mir allerdings sicher, dass ich heute bei Neumond wirklich auf der Klippe gestanden habe. Im Lichtfinger des Leuchtturms packte ich mein Sopransaxophon aus, am Koffer klebt ja noch Sand. Es kann rufen, dass man es bis hinüber hört an der Kreideküste bei Dover. Obwohl „summertime“ längst vorbei ist. Eine Band wollten wir gründen, mit Bass, Percussion und Posaune. Alex heidnische Angst muss sie jetzt lindern, sein Entsetzen, weil er auf dem Grund des Ozeans keinen Gott finden wird. Doch sein Altsaxophon antwortet mir nie, nur der wütende Atem des Meeres schlug mir entgegen, nahm mir die Luft. In der Ferne ein paar Lichter von Containerschiffen auf dem Weg nach Asien. Die Band hat nur zweimal geprobt.
Dabei war es doch sein Atheistenmut, der mich mich damals gerettet hat. Als er vor der vatikanischen Bibliotheksschränken des Vaters ihm ins Gesicht widerstand: „Woher wissen Sie, was gut ist für Ihre Tochter?“
Wochenlang liefen wir auf Mairosenblättern durch Paris. Die Boulevard – Cafés, der Louvre, die Metro. Im Musée d´Orsai wusste er alles über die Impressionisten. Abends die maghrebinischen Restaurants im Quartier Latin, die Jazzkeller, Kunstpostkarten und ein paar schmachtende Akkordeons am Quai. Ein amerikanisches Filmfestival in Deauville und Krabbenfrühstück mit Cidre, dann quer durchs Land bis in die Camargue – ein ganzes Sommersemester im Campingbus.
Das alles ist wirklich geschehen und geschieht immer noch, sonst wäre auch die bittere Zeit danach nicht geschehen, als ich zwei Jahre lang über glühendes Pflaster ging. Meine Wundmale kenne nur ich und ich weiß allein, wann sie wieder aufbrechen und zu sprechen anfangen, wenn im Spätsommer das Wetter umschlägt.
Heute Morgen bleibe ich auf meinem Zimmer, weil ich ihm hier oben den Frühstückstisch gedeckt habe. Davon weiß unten niemand. Er soll wenigstens einen handfesten Grund haben, zu mir zurück zu kehren. Sich an den Tisch setzen, als sei über Nacht nichts passiert. Als habe die Strömung gewechselt, und er war ja ein guter Schwimmer. Manchmal kehren sie zurück. Wenn ein Wind von gestern an den Läden rüttelt und die Gespenster, die er mitbringt, wieder ums Haus streichen wie ein Wolfsrudel. Wir werden beide hungrig sein und durchgefroren, vielleicht sogar den Mut finden für die Wahrheit. Schwer und aschgrau ziehen am Horizont die Containerschiffe vorbei. Am durchsichtigen Vormittagshimmel zeigen sich erste Wolken. Wie rollende Ackerfurchen die Dünung, eine auffrischende Brise krönt sie jetzt mit Schaum.
Doch ich rechne nicht wirklich mit ihm, weil er anscheinend der festen Überzeugung war, dass es ohnehin zu Ende ging mit uns. Er hat alles besser gewusst. Mindestens einmal muss er sich geirrt haben. Längst wäre Zeit für ein erlösendes Wort.
Manchmal verschwinden Leute auch, weil sie ihr altes Leben hinter sich lassen wollen. Sie machen einen radikalen Schnitt und werden auf einem anderen Kontinent neu geboren. Seine alten Ausweispapiere hab ich nie gefunden, er muss doch einen Pass, einen Führerschein dabei gehabt haben. Ich seh ihn über die Straße gehen, in einer Großstadt, in einem Land ohne Meldepflicht. Ich seh ihn im Regenwald als Ranger, bei einer Arktisexpedition. Vielleicht war er irgendwo verheiratet, hat es sich anders überlegt und ich war bloß das Fieber seiner amourösen Schattenseite. In seiner WG war er überhaupt nicht gemeldet. Monate später standen zwei Polizeibeamte vor meiner Tür und befragten mich wegen einer Betrugsanzeige. Ein paar Dutzend Rentner seien um ihre Ersparnisse gebracht worden. Durch Manöver auf dem grauen Kapitalmarkt. So etwas passte überhaupt nicht zu ihm, Geld bedeutete ihm doch nichts. Kann ich mir überhaupt noch bei irgend etwas sicher sein? Alles ist ins Wanken gekommen, alles kann verloren gehen auf hoher See, es zieht dich hinab, wenn du nicht rechtzeitig loslässt.
Nachher werde ich das Frühstück zum Container bringen und schnell meine Sachen packen, damit ich den TGV in Rennes noch bekomme.
Den Kindern sage ich jedes Mal, ich besuche eine alte Bekanntschaft in Frankreich, das ist keine Lüge, sie dürfen dann zur Oma. Wenn ich zurück bin, werden wir im Wintergarten sitzen und Jens hat Zwetschgenkuchen gebacken, Kaffee und Sahnetopf, die Schiebetüren werden weit offen stehen, damit der Herbstduft herein strömt: Rosen, Silberkerzen, Geisblatt und Nelke. Der Große hat mir ein Bilderbuch vorgesetzt und ich muss die Geschichte vom kleinen Seeräuber erzählen, wie er den Schatz findet. An der Wand hängt der alte Ölschinken mit Leuchtturm und schaumgekröntem Meer immer noch schief – das Seestück von meinen Großeltern. Vielleicht werde ich bald die Kraft haben, es abzuhängen. Wenn die Kleinen endlich schlafen und im Dämmerlicht unter den Bäumen der Sommer ausklingt, werde ich wieder festen Boden unter den Füßen spüren. Jens wird eine Flasche Spätburgunder aufmachen, lächeln und die Achseln zucken. Er muss nicht verstehen, was ich selbst nicht verstehe. Alex hätte an seiner Stelle eine Szene gemacht, aber Jens ist Jens und Jens lässt mir meine Bilder.