Johanna Kunz „Machen Sie sich keine Sorgen“

„Machen Sie sich keine Sorgen“ von Johanna Kunz wurde bei den Donnersberger Literaturtagen 2019 ausgezeichnet mit dem Susanne-Faschon-Preis. Hier ein Auszug aus dem Text:

Ich wusste nicht genau, was ich mit „da“ meinte. Auch hatte ich keine Ahnung, ob es überhaupt ein Ziel gab, aber ich hoffte darauf. „Im Gegensatz zu der Zeit, die Sie dort verbringen werden nur ein Wimpernschlag.“

„Sie brauchen nicht nervös zu sein“, sagte der Tod und versuchte dabei, möglichst einfühlsam zu klingen. Ich unterdrückte ein Schnauben und verschränkte meine Arme vor der Brust. „Nervös“ war so ziemlich das letzte Wort, das mir in den Sinn kam. Wütend war ich. Und vielleicht ein bisschen traurig, auch wenn ich mir das nicht eingestehen wollte. „Leute sterben jeden Tag, da müssen Sie sich nicht für schämen“, fuhr er fort. Diesmal unterdrückte ich das abfällige Geräusch nicht.

„Wie lange machen Sie das schon?“, fragte ich und sah ihn an. Etwas, das ich seit Beginn meiner Reise vermieden hatte. Viel gab es dort aber auch nicht zu sehen. Die Kapuze seines gelben Regenmantels hatte er sich tief ins Gesicht gezogen und ein dicker, dunkelgrüner Wollschal verdeckte dessen unteres Drittel. Der schmale Streifen, den ich sehen konnte, überraschte mich jedoch. Er sah anders aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Menschlicher, kam mir in den Sinn. Und jünger. Vor mir saß kein, in einen schwarzen Umhang gehüllter, skelettartiger Sensenmann, sondern ein Junge. Dunkle Augen, umrahmt von dichten Wimpern sahen mich unverwandt an.

„Schon eine ganze Weile. Warum?“ Nur seine Stimme verriet ihn. Im Gegensatz zu dem Rest seiner Erscheinung wirkte diese nämlich alles andere als menschlich. Obwohl sie zu seinem Aussehen passte, schien sie nicht von ihm, sondern von überall gleichzeitig zu kommen. Als würde ich ihn durch Kopfhörer hören.

„Sie sind mies darin“, antwortete ich. Ich wusste nicht genau, wie lange wir schon in dem hölzernen, morsch wirkenden Boot saßen, und es war mir auch egal. Zeit spielte für mich wohl keine Rolle mehr. „Oh“, machte er. „Wissen Sie, wenn ich für jedes Mal, wenn mir das jemand sagt, einen Euro bekommen würde, hätte ich jetzt einen Euro.“ „Ich hätte mit mehr gerechnet“, sagte ich ehrlich. Er zuckte mit den Schultern. „Die meisten Toten reden nicht so viel.“ „Bis jetzt hatte ich immer angenommen, dass Tote gar nicht sprechen“, entgegnete ich. Ein erneutes Schulterzucken seinerseits signalisierte mir, dass er wohl tatsächlich lange kein wirkliches Gespräch mehr geführt hatte. Da es mir da ähnlich ging, schwiegen wir. Ich versuchte mich umzugucken, was jedoch zwecklos war. Das einzige Licht kam von einer Kerze, die der Tod in der Hand hielt und in der Luft hingen dichte, schwere Nebelschwaden, die es mir unmöglich machten, weiter als zwei Meter zu sehen. Eigentlich müsste mir kalt sein, dachte ich. Die Oberfläche des Flusses, auf dem das Boot geräuschlos entlangglitt, war schwarz und spiegelglatt. Zu gerne hätte ich meine Hand ausgestreckt und sie berührt, doch als ich ihm gegenüber aufgewacht war, waren die ersten Worte des Todes gewesen: „Bitte Arme und Beine während der Fahrt innerhalb des Bootes lassen. Fotos nur ohne Blitz, die Fische sind nicht zu füttern.“ Andererseits war ich sowieso schon tot, also was sollte noch großartig passieren?

„Ich weiß, woran Sie gerade denken und es ist eine dumme Idee.“ Ertappt steckte ich meine Hand in die Jackentasche. „Wie lange noch?“, fragte ich. „Bis Sie das Wasser anfassen dürfen?“ „Nein, bis wir da sind.“

Die Antwort beruhigte mich. Irgendwo würden wir also noch ankommen.

Wie es weitergeht, können Sie in unserer Anthologie „Zwischen den Stühlen“ nachlesen, die 2021 im Geest-Verlag erschienen ist unter der ISBN  978-3-86685-840-4.