„Morgenmomente“ von Viktoria Dippel wurde bei den Donnersberger Literaturtagen 2015 mit dem 3. Preis ausgezeichnet. Hier ein Auszug aus dem Text:
7:00 Uhr morgens. Und ich sitze im Bus. Scheiße langweilig der Mist. Wie jeder der mit schon fast kompletter Bescheuertheit und jugendlichen Idiotien Infizierten hier habe ich Kopfhörer in den Ohren und höre Musik. Ich schaue aus dem Fenster, scheiße kalt ist es draußen. Also zusammengefasst sitze ich in einem bereiften, Viehtransport-ähnlichen Gefährt, das mich da hin bringt, wo ich gar nicht hin will, viel zu früh morgens, mit Gehirn amputierten, verpickelten, Zahnspangen tragenden Halbwüchsigen und denke an die Schule. Wirklich. Saudumme Erfindung. Der, der sich das ausgedacht hat, gehört an die Wand gestellt. Wir müssen in Deutsch eine Mindmap erstellen zum Thema Morgenland. Jeder aus meiner Klasse denkt dabei an Krieg und so einen religiösen Schwachsinn. Oder auch sehr beliebt sind Prinzen und Prinzessinnen, Feen, Einhörner, Liebesgeschichten, Farben und sonstiger im Kopf vorgestellter Abfall.
Ich denke da an das letzte Wochenende. Denn unter Morgenland verstehe ich einen Ort oder mehr eine Zeit, in der es schön ist – denn mal ganz ehrlich, selbst wenn es das perfekte Land gibt, denke ich, dass es sogar dort Schlechtes oder Schlimmes gibt. Geben muss. Denn irgendwo müssen aufgestaute Emotionen, leere Alkoholflaschen, Zigarettenkippen, abrasierte Haare, dumme Gesichter oder der ekelhafte – aber auf erschreckende Art vielseitige – Inhalt des Staubsaugerbeutels doch hin. Also ist das Morgenland für mich kein Land, sondern Momente, also Morgenmomente. Momente, die wir noch nicht kennen oder erlebt haben. Und die schönen Erinnerungen? Sind das dann die Gesternmomente? Ziemlich verwirrend sowas. Also für mich, denn wie es typisch für mein Alter ist, habe ich dank der großartigen Hilfe der Klopfer und der Happy-Hour in meiner Lieblingsbar noch gut geschätzte 43 arbeitende Gehirnzellen in meinem Kopf. Und das, obwohl ich in einem pädagogisch wertvollen Kindergarten war und eine von diesen Supermuttis besitze.
So eine von denen, die dauernd mit den Händen entweder in deinem Gesicht sind oder einem an den Klamotten rumzuppeln. Die ihren neuen Mann beim Singles-Wandern kennengelernt hat. Ich finde der Begriff „Singles-Wandern“ sagt auch schon alles darüber aus, wie ihr neuer Stecher ausschaut, der, wenn Mama gut gelaunt ist, dreimal im Monat klingen darf, wie eine angefahrene Esel-Wildschwein-Mischung. Also dagegen ist ein Bauer von „Bauer sucht Frau“ ein echter Hingucker. Und selbstverständlich hat sie nicht so Freunde, die sich in der Wohnung treffen, Kaffee trinken, rauchen und über das Herzchen geformte, kleinwagengroße Hinterteil irgendeines LMNO-Promis reden. Nein, meine Mum hat DIE super-narzistischen, Mein-Kind-wird-Präsident-und-das-durch-biologische-Mörchen-und-selbstgemachten-Apfelsaft-Freunde. Anstatt Kaffee trinken sie selbst aufgesprudeltes Mineralwasser und reden über gute Erziehungsmaßnahmen, wie viele Häufchen ein Kind am Tag machen sollte und wie man die übergewichtige, natürlich aus dem Tierheim gerettete, von der ganzen Familie geliebte Fußhupe auf veganes Futter umstellen kann. Aber das Aller-, Allerschlimmste, nein Grausamste, was diese stolzen, Damenbart-tragenden Furien, Entschuldigung ich meine anstatt Furien natürlich Emotionen-Bewältigungskünstler, jemals – nennen wir es – „geschaffen“ haben ist der Luise. Luise, ich bin mir nicht sicher, ob Sohn oder Tochter, auf jeden Fall stand Luise in einem – natürlich selbst genähten Tutu – auf der Bühne, um eine Ballett- (naja mehr Kleiner-rosa-Ball-kann-dopsen-) Aufführung hinter sich zu bringen. Das war alles andere als ein Morgen- oder Gesternmoment; das war etwas, was alte senile Omas; die ohne ihre Brille noch nicht mal ein Fahrrad von einer Bäckerei unterscheiden können, als „schau mal, was ein süßer, gut dressierter Gymnastikball“ bezeichnen …
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Wie es weitergeht, können Sie in unserer Anthologie „Schicksal und Geschick“ nachlesen, die 2021 im Geest-Verlag erschienen ist unter der ISBN 978-3-86685-624-2.