Winfried Anslinger: Die Fahrt

© Winfried Anslinger

Am Morgen seines vierzigsten Geburtstags löste Tim R. am Fahrkartenautomaten im Hauptbahnhof ein Ticket und stieg in den ICE Richtung Basel. Sein Appartement im siebzehnten Stock hatte er so zurückgelassen, dass es Wochen dauern würde, bis jemandem etwas auffiel. Nur auf seinem Schreibtisch in Altona würden sich die Umlaufmappen stapeln, aber das war ihm lieber, als Antworten auf Fragen nach Urlaubszielen erfinden zu müssen.

Als er vier Stunden später nach fünf Zwischenstopps in Mannheim aus dem Zug stieg, war er vollkommen aus seinem Leben verschwunden. Es war unterwegs zusammengeschmolzen wie ein Haufen Schnee in der Märzsonne.

Angela zu finden war leicht gewesen, weil sie ihren Familiennamen behalten hatte und der im Internet – Telefonbuch nur fünfmal vorkam. Sie teilte sich Festnetznummer und Adresse mit einem Mann.  

Vor dem Hauptbahnhof startete er die App, welche ihm Bahn und Bus wies, um eine halbe Stunde später vor ihrem Einfamilienhaus zu stehen. Es lag schräg gegenüber der Haltestelle in einer Platanenallee. Dass sie wirklich dort wohnte, bewies das Messingschild am Tor.

An der geweißten Backsteinfassade flammte wilder Wein auf, bis zum Zementdach umrankte er die Fenster des Bungalow, die ihn misstrauisch beäugten.

Von der überdachten Bank der Haltestelle aus konnte man die ganze Häuserreihe im Blick behalten, auf ein paar Stunden kam es jetzt nicht mehr an. Ein erster Frühjahrssturm hatte in der Nacht Ahorn und Platanenblätter regnen lassen, die jetzt einen Tanz mit dem auffrischenden Wind aufführten.  

„Komm doch mit, es soll alles wieder wie früher sein!“

Er war nicht eingestiegen in die Bahn. Obwohl er wusste, dass sie fünf Haltestellen lang weinen würde, war er nicht eingestiegen. Nicht weil der Sisalteppich in ihrem Partykeller so kratzig war, dass sein Rücken wund wurde, wenn sie ihn darauf ritt, sondern weil ihm alles viel zu schnell gegangen war, ihre Zielstrebigkeit, dieses Kompromisslose.  

Ein Bus kommt. Der Mann im Regenmantel, das Mädchen mit Büchertasche, zielstrebig geht sie aufs Bungalow zu, öffnet eine gut gesicherte Haustür, in der Mikrowelle wird ihr Mittagessen stehen. Wird sie nachher selbst mit dem Auto kommen, das schwere Metalltor würde automatisch zur Seite gleiten, das Garagentor im Untergeschoss sich lautlos öffnen, doch wird er sie im Vorbeifahren erkennen? Fünfundzwanzig Jahre. Beim letzten Klassentreffen waren die Mädchen von damals in Muttis verwandelt, mit Brille, Steck- und Kurzhaarfrisuren. Du warst nicht dabei und seitdem sind weitere zehn Jahre vergangen. Ehefrauen in solchen Vierteln kommen im Mittelklassewagen. Er wird im Arzt-Mercedes, im Architekten-BMW vorfahren. Ob sie Studienrätin geworden ist? Dann wird sie vor ihm zuhause sein.

„Romanistik und Deutsch, die Fächer kann ich mir vorstellen, aber egal.“

„Das kann einem doch nicht egal sein.“

„Weißt du, wie du in zehn Jahren leben wirst?“

Er will inzwischen nicht mehr wissen, was in zehn Jahren ist, weil sich ohnehin alles im Kreis dreht. Obwohl sich aufdrängt, dass dieses Mädchen seine Tochter sein könnte, wenn er eingestiegen wäre, vielleicht ein paar Jahre älter jetzt, und er ohne Abschluss, drei Gehaltsstufen tiefer. Das würde ihm heute nichts mehr ausmachen. Wenn die Zukunft ein unbestimmbarer Punkt auf einer Kreislinie ist, kann es darum nicht gehen.

Beate hatte es viel diplomatischer angefangen als Angela und war zur richtigen Zeit aufgetaucht. Sie hätte sich nie mit ihm in einen kalten Keller gelegt. Nie gab es Unbequemlichkeiten für ihn, sie hatte an alles gedacht. Sie legte sogar Wert darauf, dass sie in der – aus ihrer Sicht – richtigen Reihenfolge kamen.

Doch dann ihre Dachwohnung in der Heidelberger Weststadt mit dem niedrigen Kniestock, wo man sich den Kopf am Gebälk stieß. Und jede Nacht das Kind. So kam eins zum Anderen. Er wäre gern noch ein zwei Jahre länger nachts auf den Balkon hinaus getreten, um sich in den Sternbildern zu verlieren: großer Wagen, kleiner Bär, Andromeda. Auch wenn er wusste, dass unendliche Begriffe meist auf Denkfehlern beruhen, waren ihm Sinn und Geschmack fürs Unendliche in ihrer Enge immer näher gerückt. Öffneten sie tagsüber eines der Kippfenster, klang der Stadtlärm wie das geschäftige Summen eines Bienenstocks herauf. Zur Straße hin konnte man kein Fenster öffnen, sofort schmeckte alles nach Diesel.

Das hätte man wissen können.

Es folgten zwei weitere Umzüge, immer auf der Flucht, in der Hoffnung auf ein besseres Nest. Beate gefiel ihm in ihrem Zustand, den sie auch zu seinem Zustand zu machen verstand. Bis er verstand, wie raffiniert sie ihn an der langen Leine führte. Das hätte man wissen können.

Drüben wird ein Fenster gekippt.

Es soll alles wieder wie früher sein, Angela. Er geht mit ihr unter den Platanen, Herbstregen, der Mond durch dichtes Astgeflecht, warm unter den Mänteln. Es ist nicht das erste Mal so, aber jetzt steht die Zeit still.    

Heute weiß er, dass es auf endlich oder unendlich nicht mehr ankommt.

Er greift in seiner Anoraktasche nach dem Foto.
„Erinnerst du dich an die Szene? Es wurde nach dem ausgefallenen Buffet im Ebertparkrestaurant aufgenommen, nach dem ersten Klassentreffen. Es hatte ein Missverständnis mit der Restaurantleitung gegeben und es war nichts übrig geblieben, als uns in ein verrauchtes Nebenzimmer zu drängen, wo man sich nur nach rechts und links unterhalten konnte. Du warst am anderen Tischende gelandet. Danach sind wir zu viert die alten Routen abgegangen. Ich glaube, eine fremde Person war so nett und hat die Kamera bedient. Das ist jetzt mehr als zwanzig Jahre her. Ich hoffe, wir werden uns noch erkennen. Falls du mich überhaupt sehen willst. Für den Blick in den Badspiegel am Morgen muss ich manchmal tief durchatmen. Wird mein Anblick eine Zumutung für dich sein? Wenn du erst meine inneren Verwüstungen siehst. Die Klassentreffen haben sich leider nicht wiederholt, schon damals fehlten einige.
Auf dem Foto weisen die beiden Pavillons im Hintergrund auf den großen Platz, wo ich vor vielen Jahren selbst gebastelte Drachen im Herbstwind steigen ließ, die sich nach zwei Flügen selbst zerlegten. Einmal brannte ein riesiger Scheiterhaufen aus Palettenresten, Bauholz, Ästen und wir warfen alles hinein, was zur Hand war. Auch die Zulassungspapiere meines Vaters, die ich ihm ins Geschäft bringen sollte, für unseren ersten VW Käfer. Der infernalische Spaß schwärzte unsere Gesichter, das ging tagelang nicht weg und überdeckte am nächsten Tag die roten Flecken vom väterlichen Wutausbruch. Was konntest du über solche Geschichten lachen, das gab mir Mut. Später wollte ich mir den nicht mehr leisten.

Auf dem Bild war Sonntag und Drachenwetter, wie man an deinen Haaren sieht. Ich hab mich nicht getraut, über früher zu sprechen und wir blieben im Unverbindlichen, es waren immer andere um uns herum und ich war im Grund froh darüber, denn hätte ich sagen sollen, dass um halb sieben schon meine Bahn geht, weil ich zurück muss? Beate wartete auf mich, damit sie ihr Abonnement im Nationaltheater nicht versäumte und die Kleine versorgt war. Ich glaube, das hätte dich verletzt. Das Foto hat mir Doro geschickt, du musst es auch bekommen haben, vermutlich hast du es weg geworfen.
Der Park war die Gegenwelt zum tristen Friesenheimer Haus an Haus: Das Wetter rauschte in den Bäumen und pfiff über die pfützenreichen Freiflächen. Unter Trauerweiden lag ein grün schimmernder Weiher, gegenüber die Gehege mit Fasanen und Wachteln, ein Wiesel flitzte in seinem Käfig herum, stolz marschierten Kronenkraniche auf den Wegen. Ganz hinten lag der ehemalige Bärenzwinger, über den seltsame Geschichten im Umlauf waren. Immer nachmittags, samstags, wenn wenig zu tun war, verbrachte ich dort, im Kreis meiner Gedanken. Oder mit den Kumpels, im Frühjahr, wenn Halbstarke auf dem Platz ihre zornigen Mopeds vorführten, im Herbst, wenn Wärter den Weiher abfischten. Tröge voller Karpfen, die schliefen mit offenen Augen und wir machten uns Gedanken über den Tod.“

Auf der gegenüber liegenden Seite bremst der Bus, mit dem er vorhin gekommen ist. Er lässt eine gebrechliche Frau zurück. Ihr halboffener Sommermantel flattert im Wind.

Er sitzt im Kettenkarussel, schwebt über den Kirmesplatz, Schiffschaukeln, Riesenrad, Boxautos unter dem Dröhnen ihrer Lautsprecherboxen, das Auf und Ab der Raupenbahn. Überall gleich süß die Kirmesmusik und all den vielen Düften nach kandierten Äpfeln, Zuckerwatte, gebrannten Mandeln. Bunte Lollis, Karamell und Gummilutscher in den Auslagen der Verkaufsbuden, wo man mit Zangen hantieren musste, um alles zu erreichen. Ein Zigeuner steht zwischen den Pavillons mit einem riesigen Strauß Luftballons und blickt scheel nach der Losverkäuferin, die märchenhafte Gewinne verheißt. Ein blondes Mädchen begegnet ihnen mit einer Puppe im Arm, die fast so groß ist wie sie selbst. Kirmes und Parkfest.
Vielleicht erinnerst du dich noch an die Abende mit den feierlichen Runden, die bunten Lichterketten, als die illuminierten Kähne über den Weiher schwebten – selbstverständlich mit lauter Liebespaaren drin. Aus dem dunklen Gesträuch erklang fernöstliches. Von Zeit zu Zeit drohte ein Wetterleuchten, es war Hochsommer.
Gegen Mitternacht plötzlich ein gewaltiges Kunstgewitter. Feuerkaskaden, die den Himmel in alle Farben tauchten, es krachte und rumste wie in einem Krieg, und als es vorbei war, fühlte man sich heim geschickt. Man ging freiwillig, denn mehr konnte die Seele nicht fassen.
Auch wenn sich das seither vermutlich jährlichwiederholt hat, es ist so vergangen wie seine ganzen Jahre. Er ist sich nicht klar darüber, was das alles zu bedeuten hat.


Er hat das Auto schon gehört, als es in die Straße einbog. Ein roter Chinquecento.