Katrin Fuchs: „Dämmerung“

„Dämmerung“ von Katrin Fuchs wurde bei den Donnersberger Literaturtagen 2019 mit dem 3. Preis ausgezeichnet. Hier ein Auszug aus dem Text:

Als er den Raum betrat, überlief ihn eine Gänsehaut. Ein seltsamer Geruch aus Desinfektionsmitteln und verbrauchter Luft erfüllte das karge Zimmer. Es war dunkel. Nur schemenhaft konnte er erkennen, wie sich ihr Brustkorb in stetigen Abständen hob und senkte. Ein rasselndes Geräusch verriet die Anstrengung, die ihr das Atmen abverlangte. Der schmale Spalt zwischen den schweren Vorhängen warf einen dünnen Lichtstrahl zur Tür.

Unschlüssig stand er immer noch an der Schwelle.

Es widerstrebte ihm, auf das Bett zuzugehen. Ein schwacher Geruch nach Reinigungsmitteln schwebte aus dem hell erleuchteten Gang herein.

Das Lachen der Kinder, die in den Fluren auf- und ab­rannten, erstarb, als er vorsichtig die Tür hinter sich schloss.

Er schluckte schwer. Stille senkte sich auf ihn, drohte, ihn zu ersticken. Instinktiv tastete er nach seiner Kehle. Luft. Luft. Luft.

Er lauschte angestrengt, da musste doch etwas sein. Irgendetwas!

Die Außenwelt konnte sich doch nicht so einfach in Luft auflösen! Doch, so sehr er sich auch bemühte, da war nichts. Absolut nichts, nur das monotone Summen der Geräte und der gleichmäßige Ton ihres Herzens.

Wie lange hatte er sich insgeheim vor diesem Augen­blick gefürchtet? Es war, als hätte sie ihn in ihre düste­re Welt entführt. Das erste Mal seit Monaten war er mit ihr allein.

Ganz allein.

Plötzlich war sie wieder da. Im Alltag war es ihm weit­gehend gelungen, sich von seinen Schuldgefühlen zu befreien, doch nun spürte er sie wieder so intensiv, wie damals nach dem Unfall. Wieder umschlang ihn die Angst mit ihrem massigen Körper, erst vertraulich, fast zärtlich, dann verstärkte sie den Druck.

Lange, knochige Finger wanderten über seine Brust, verweilten dort einen Moment über seinem pochenden Herzen und wanderten schließlich zu seiner Kehle. Ein nie gekanntes Gefühl von Enge machte sich in sei­nem Körper breit.

Er konnte es nicht länger verdrängen. Nicht länger von sich weisen.

Das Kartenhaus seiner Lügen und Selbstverleugnun­gen war zusammengebrochen.

Er verspürte die Angst in jeder Faser. Sie lähmte ihn.

Plötzlich war es ihm unmöglich, sich zu bewegen. Er wollte zum Fenster rennen, die schweren Vorhänge zur Seite zerren und Luft und Licht in dieses Zimmer lassen, es wiederbeleben. Er könnte sich auch einfach umdrehen und durch die Tür, diese einfachste aller Barrieren, in Windeseile dieser Totenkammer entkom­men, doch etwas hinderte ihn daran. Jemand hinderte ihn daran.

Wie es weitergeht, können Sie in unserer Anthologie „Aufbruch“ nachlesen, die im November 2013 im Geest-Verlag erschienen ist unter der ISBN  978-3-86685-436-9.