„Innenleben“ von Patrizia Turek gehörte zu den Siegertexten der Donnersberger Literaturtage 2021. Hier ein Auszug aus dem Text:
Der beständige Regen verlieh der auflebenden Dämmerung etwas seltsam Mystisches. Tropfen für Tropfen bildeten eine Symphonie in zarter Symbiose mit dem sich aufbäumenden Wind, der den Schauer wie im Rausch zerstäubte und in die Fänge des Chaos trieb. Eine schreiende Landschaft im sehnsüchtig wirren Rausch.
Ihre Hände umklammerten die Riemen ihres Rucksacksfester, während ihre Gedanken zwischen den Gleisen tanzten und trieben, um sich letztendlich im weiten Raum zu verlieren. Ihre Zehen überragten den Strang des Gleises um wenige Zentimeter, sodass es ihr schien, als könnte ein sanfter Hauch sie niederreißen. Der Gedanke zog ein kleines Lächeln über ihr Gesicht, das so bittersüß im Kontrast zu ihren weit aufgerissenen Augen stand. Die bernsteinfarbenen Kristalle glänzten beinahe verträumt im Kampf gegen die reifende Finsternis, die sich immer massiger und massiger in dem Abgrund vor ihren Füßen manifestierte.
Tief einatmend löste sie ihren Blick von den nassen Schienen und richtete ihn gen Himmel. Weißer Dunst verließ sprühend ihre Lippen, griff nach den Wolken, strebte ihnen sehnsüchtig entgegen, um sich letztendlich irgendwo in der Welt zu verlieren, wie auch sie sich irgendwo in der Welt verlor. Es fiel ihr schwer, einen
genauen Zeitpunkt zu definieren, an dem ihr Inneres angefangen hatte zu splittern. Es fiel ihr so schwer, dass sie stirnrunzelnd versuchte, wahllos Erinnerungen aus ihrem Geist zu kramen, als wäre sie eine Detektivin im Ermittlungsverfahren.
Schlittenfahren auf dem Hügel vor dem Altersheim, während die Senioren aufgeregt geklatscht und gelacht hatten. Die erste richtige Achterbahnfahrt im Holidaypark mit ihrer Schwester an der Seite, die wie am Spieß geschrien hatte. All die Bücher, die sie bereits gelesen hatte und deren Worte um sie waberten und rauschten. Diese eine Fahrt nach England, als sie auf einem fremden Kerl eingeschlafen und anschließend vor Scham ganz rot geworden war. Der gruselige Nachbar, den sie vor langer Zeit in ihrem Verstand eingeschlossen hatte. Der Moment, als sie sich die Haare abrasiert hatte, um zu lernen loszulassen. Dieses eine Mal, als sie auf der falschen Seite der Brücke gestanden hatte. Die erste Zigarette auf dem Balkon der Psychiatrie in bemerkenswerter Heimlichkeit. Das breite Grinsen ihrer besten Freundin auf ihrem ersten Konzert. Die Abschiedsbriefe, die zentnerschwer in ihrer alten Schultasche lagen. Ein zittriges Lächeln umspielte ihre spröden Lippen, als sie an all diese Lichter in der Dunkelheit ihres Verstandes dachte. So viele Lichter, dass ihr Geist eigentlich lichterloh brennen müsste. Ihre Haut müsste sich mit einem dünnen Schweißfilm bedecken, sich rötlich färben, leichte Blasen werfen und sich letztendlich schälen, als würde sie wie ein Phönix aus ihrer eigenen Asche neu auferstehen.
…
Wie es weitergeht, können Sie in unserer Anthologie „Zwischen den Stühlen“ nachlesen, die 2021 im Geest-Verlag erschienen ist unter der ISBN 978-3-86685-840-4.