Hans Vanselow: Ich, Corona

© Hans Vanselow

Ha, ist das ein Fest! Ich hätte nie gedacht, dass wir es schaffen, ja, dass es so einfach werden würde.  Aber ich sollte mich erst einmal vorstellen, die Menschen haben uns SARS-CoV-2 getauft und ich bin einer davon. Aber wie sie uns nennen ist mir egal. Unsere Vorfahren hatten sich auf kleine Lebewesen spezialisiert, Fledermäuse zum Beispiel, aber in deren Körpern lauerte eine massive Abwehr, wir hatten es schwer, sehr schwer, unseren Bestand zu halten. Dann bot sich einem Ur-Ur-Urahn die seltene Gelegenheit, einer dieser Zweibeiner, die sich selbst Menschen nennen, kam ihm sehr nahe und Uropa nutzte die Chance und sprang ihm in den Mund.

Ein Schlaraffenland tat sich ihm auf, er konnte dort tun und lassen was er wollte, er konnte sich teilen und vermehren, ohne dass irgendjemand Notiz von ihm nahm. Jeder seiner Nachkommen trägt sein Erbe mit sich, er hat diesen neuen Wirt analysiert und die besten Besiedlungsgebiete erkundet. Seitdem folgen alle seine Nachkommen, also auch ich seinem Plan. Noch nie in der Geschichte unserer Gattung gab es eine erfolgreichere Eroberung neuer Lebensbereiche. Lustig ist, dass nicht wir für die Verbreitung unserer Spezies sorgen, nein, das tut unser Wirt für uns, indem er stoßweise jede Menge Luft ausstößt. Dabei werden viele von uns mitgerissen und bekommen so die Chance, einen neuen Menschen zu erobern. Meist gibt es genug Auswahl in erreichbarer Nähe. Meiner Sippe ist das schon viele Male gelungen und so konnten wir unseren Beitrag zu dem großen Ziel leisten, uns über den ganzen Globus zu verteilen und dadurch unbesiegbar zu werden.  

Einige von uns sind sogar mit Flugzeugen mitgeflogen, auf Schiffen gereist und haben Urlaubsorte besucht. Paradiesische Zustände für uns, denn nirgendwo kommen sich unsere Opfer näher. So konnten wir nach Europa auch das noch fernere Amerika besuchen und uns unter den Wirten umtun. Unser nächstes Ziel wird Afrika sein. Obwohl es näher ist, ist es schwerer zu erreichen, weil die Reisemöglichkeiten dahin nicht so üppig zu finden sind. Dafür haben wir schon Australien erobert und das war gar nicht schwer. Aber auch Afrika schaffen wir, da bin ich mir ganz sicher und wenn wir erst einmal Fuß gefasst haben, wird es bestimmt ganz leicht sein, uns dort zu verbreiten. Aber soweit sind wir noch nicht.  

Bisher sind wir auf einem guten Weg. Am schönsten ist es bei kleinen Wirten, Kinder werden die von den Menschen genannt. Die stecken so gerne die Köpfe zusammen, da geht beim Überspringen kaum einer meiner Sippe verloren. Nur darf man nicht zu lange in so einem kleinen Wirt bleiben, das haben wir schnell gelernt, denn der Widerstand gegen uns wächst dort rasant an. Also heißt es, rechtzeitig den Absprung zu planen. Das ist dann aber auch ganz einfach, denn der neue Wirt holt uns in der Regel direkt ab. Beim Küssen, so nennen die Menschen das was sie da tun, können wir ganz lustig so oft wir wollen hin und her schwimmen.  

Neulich hatte ich das Glück, einen Verwandten aus einer anderen Sippe zu treffen. Das war sehr wichtig für mich, denn er gab mir einige wertvolle Tipps. Er und viele seiner Sippe waren viel weiter in ihren Wirt eingedrungen als sonst und sie fanden einen Platz, in dem sie beste Voraussetzungen vorfanden, um sich nach Herzenslust zu teilen, doch plötzlich gerieten sie selbst in große Not. Es wurde immer heißer, das war aber nicht so schlimm, gefährlich wurden die Abwehrzellen des Wirtes, die auf alles losgingen, was sie für einen Gegner hielten. „Die meisten von uns“, so erzählte er, „konnten sich leicht verstecken, denn die Abwehr erkannte uns nicht, aber durch das viele Kämpfen, teilweise kämpften sie sogar mit ihren eigenen Kollegen, wurde eine zähe Masse produziert, die uns das Leben schwer machte. An Teilen und Vermehren war unter diesen Umständen nicht mehr zu denken. Ich war in diesem Schleim gefangen und wurde aus meinem Wirt geschwemmt. Fast wäre ich in einer silberglänzenden Schüssel gelandet, das wäre sicher mein Ende gewesen. Im letzten Augenblick konnte ich die Haut eines der Finger erwischen, die diese Schüssel hielten und mich daran festklammern und als der Finger einmal an die Nase geführt wurde, war mein Dasein gerettet und so bin ich jetzt hier.“  

War das eine spannende Geschichte und gleich fragte ich meinen Vetter, ob er mir nicht zeigen wolle, wo sich dieses Schlaraffenland befindet, doch das lehnte er kategorisch ab. „Höre, was ich dir sage“, begann er theatralisch „wie lautet der Auftrag unseres Ur-Ur-Urahn? Wir sollen uns vermehren und den Globus beherrschen.“ Er machte eine Pause und sah mich halb fragend und halb herausfordernd an und als ich mich nicht dazu äußerte, dozierte er weiter: „Du darfst nie das Ziel aus den Augen verlieren! Wir waren zu gierig gewesen, waren wie im Rausch und wollten zu viel. Anfangs fühlte sich das gut an, doch dann verloren wir unseren Wirt, er starb und fast alle aus meiner Sippe mit ihm. Nur ich konnte wie beschrieben entkommen und mit mir nur noch ein paar wenige. Wenn wir euch hier nicht getroffen hätten, wir wären nicht genug gewesen, um noch etwas zu erreichen. Glaub mir, es zahlt sich nicht aus, zu gierig zu sein.“  

Gerne hätte ich noch mehr vom Leben meines Vetters erfahren, doch ein plötzlicher Hustenanfall unseres Wirts riss ihn von mir weg. „Denke darüber nach!“, schrie er mir noch zu, bevor er im Rachen eines weiß gekleideten Menschen verschwand. „Gutes Teilen!“, rief ich ihm nach, doch das konnte er sicher schon nicht mehr hören.  

Wie sich herausstellte hatte mein Vetter Glück, dass er einen neuen Wirt fand. Viele von uns hatten das in letzter Zeit nicht mehr. Die Menschen halten sich plötzlich sehr weit voneinander entfernt auf, so dass ein Überspringen nur selten und schwer möglich ist. Man brauchte sehr viel Geduld und musste sich im Hintergrund halten, um nicht beim kleinsten Huster des Wirts ins Nirvana geschleudert zu werden.  

Und was sollte ich tun? Immer wieder schaute ich nach, ob sich ein neues Opfer in Reichweite befindet, aber nein, es war keines zu sehen. Ich dachte an meinen Vetter und seine Schilderung vom Schlaraffenland. Einerseits reizte es mich, es zu suchen, andererseits erinnerte ich mich immer wieder an seine Ermahnung, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Ja, er hatte Recht, aber letztlich konnte er nicht sehen, wie ich mich gemeinsam mit einigen Freunden auf die Suche danach machte und er behielt Recht und auch das würde er nie erfahren.  

Unser Rausch im Schlaraffenland war außergewöhnlich und toll, das Erwachen daraus wird wahrscheinlich für mich tödlich enden. Alles ist voller Schleim, es kommt kaum noch Luft in seine Lungen. Unser Wirt hat unsere Orgie nicht vertragen und mit seinem Tod werde auch ich die Lebensgrundlage verlieren, aber manchmal geschehen auch Wunder und die Hoffnung, sagt man, stirbt zuletzt. Dennoch, ich hatte ein schlechtes Gewissen, denn so wie es jetzt aussah, konnte ich nichts mehr zu dem großen Ziel beitragen, die Verbreitung über den gesamten Globus zu erreichen.  

Jetzt ist alles still, kein Röcheln und Pfeifen mehr. Ruhe!!  

Aber mein Geist ist wachsam noch – und wartet auf die – Totengräber.