„Zwischen den Stühlen“ von Georg Wolf wurde bei den Donnersberger Literaturtagen 2021 ausgezeichnet mit dem Susanne-Faschon-Preis. Hier ein Auszug aus dem Text:
Quietsch, quietsch, quietsch. So hörte es sich immer an, wenn er sich nach vorne lehnte. Quietsch. Schon wieder! Daran war der Stuhl schuld, auf dem er saß, und hinzu kam natürlich seine Nervosität, die ihn vor- und zurückschaukeln ließ. Quietsch. Früher war das nicht so gewesen. Früher war er eigentlich nie nervös gewesen, ein Therapeut hätte ihn wahrscheinlich als höchst ausgeglichen beschrieben. Quietsch. Früher hatte er auf einem guten Stuhl gesessen, einem wirklich schönen Stuhl. Der hatte nie gequietscht. Und bequem war er auch gewesen, ganz anders als dieser hier. Er hatte Polster gehabt und eine verstellbare Lehne. Ein wirklicher Traum von einem Stuhl. Aber der Stuhl, auf dem er jetzt saß, war etwas ganz anderes, ein billiger Plastik-Klappstuhl, der seine besten Tage – wenn es die überhaupt jemals gegeben hatte – schon lange hinter sich hatte. Er war hässlich und unbequem dazu. Er musste staunen, wie groß der Unterschied zwischen seinem damaligen Stuhl und diesem hier war. Gefühlsmäßig, räumlich und zeitlich. Es war schon lange her, dass er zuletzt gesessen hatte, und erst, als er auf diesem klapprigen Plastikstück saß und an seinen alten Bürostuhl zurückdachte, wurde ihm richtig bewusst, wie anders diese Welt war, in der er sich nun befand. Ja, damals war noch alles „normal“. Er ging täglich zur Arbeit und setzte sich wie selbstverständlich auf seinen schönen gepolsterten und verstellbaren Bürostuhl. Der hatte sogar Rollen, und er konnte sich damit durchs ganze Zimmer bewegen, ohne aufzustehen.
So war es auch an jenem Tag, als alles sich veränderte. Als die ersten lauten Geräusche ertönten, dachte er sich nichts, denn er lebte in einer großen lauten Stadt. Doch als der Lärm nicht aufhörte, rollte er zum Fenster und sein Herz blieb für einen Moment stehen. Das war der Moment, als er die Explosion sah, die wie aus dem Nichts zwischen den Häusern erschien. Er glaubte, er würde schlecht träumen, also schloss er die Augen und hielt sich die Ohren zu, doch noch immer konnte er die Vibration der einstürzenden Gebäude spüren. Und als er die Augen wieder öffnete, war nichts mehr wie zuvor.
Vor ihm lag seine gesamte Heimat in Trümmern, alles war zerstört und er erstarrte im Schock. Erst der scharfe Schmerz von Glassplittern, die sich in seine Haut gebohrt hatten, weckte ihn auf. Was war mit seiner Familie? Ging es ihr gut?
Er rannte durch die verwüsteten Gassen, so schnell er konnte, doch an vielen Stellen war kein Durchkommen, und so dauerte es mehrere Stunden, bis er den Stadtrand erreichte. Dass er an seinem Haus schon vorbeigekommen sein musste, merkte er erst an der nächsten Straßenkreuzung. Verwirrt drehte er sich um und schaute dorthin, wo er mit seiner Frau und seinen Eltern gelebt hatte, doch da war nichts mehr zu sehen außer einem Haufen von Schutt und Dreck.
Zwei Tage und zwei vom Suchen blutig geschabte Hände später hatte er die bittere Gewissheit: Niemand aus seiner Familie hatte den Angriff überlebt. Für ihn fiel buchstäblich die Welt in sich zusammen. Er sammelte seine wenigen verbliebenen Sachen ein, schaute noch einmal von seinem Büro aus auf die Stadt, erkannte aber nichts mehr wieder. Dann rollte er vom Fenster zurück. Es war das letzte Mal gewesen, dass er auf diesem wunderbaren, gepolsterten Stuhl gesessen hatte.
…
Wie es weitergeht, können Sie in unserer Anthologie „Zwischen den Stühlen“ nachlesen, die 2021 im Geest-Verlag erschienen ist unter der ISBN 978-3-86685-840-4.