„Linien“ von Marleen Widmer wurde bei den Donnersberger Literaturtagen 2017 ausgezeichnet mit dem Susanne-Faschon-Preis. Hier ein Auszug aus dem Text:
Ich komme in die Stadt noch bevor es Sommer wird. Ich betrete sie an ihrem südlichen Ende und durchquere sie einmal ganz, bis ich im Norden ans Meer gelange. Es ist ein stiller, grauer Tag. Vom Wasser her weht ein frischer Wind und die Wellen schlagen so heftig an die Kaimauer, dass winzig kleine Tröpfchen mein Gesicht benetzen.
Die Häuser an der Promenade mit ihrem vom salzigen Wind schwärzlich verfärbten Putz und ihren kobaltblauen Türen und Fensterläden liegen so still und sauber da, als wären sie unbewohnt. Nur wenige Menschen sind unterwegs. Ihre Bewegungen zeichnen deutliche, schwarze Linien auf den Asphalt. Manche gehen langsam und ziehen ihre Linien hinter sich her wie schwere Schleppen. Bei anderen sind es schwarze, zuckende Striche die sich flackernd in alle Richtungen bewegen, wie farblose, zweidimensionale Wunderkerzen.
Ich zucke schmerzlich zusammen, jedes Mal, wenn ihre Linien die meinen kreuzen, ohne dass sie es bemerken. Ich spüre das Magnetfeld um meinen Körper, doch es fühlt sich dünn und löchrig an wie ein alter, abgetragener Mantel.
Obwohl es nicht warm ist, ziehe ich meine Schuhe aus und gehe die kleine Treppe am Ende der Promenade hinunter. Drei Stufen. Ich laufe zur Wasserkante. Der Sand ist grau und glatt wie die Haut eines Wales.
In dem Moment, als ich die Tür der Kneipe hinter mir schließe, beginnt es zu regnen.
Hinter dem Tresen sitzt eine sehr dicke Frau. Obwohl es in dem kleinen Raum nicht warm ist, ist ihr Gesicht gerötet, als schwitze sie. Es riecht nach Suppe und kaltem Rauch. Außer ihr und mir ist niemand da.
Die Frau lächelt.
Ich stelle meine Reisetasche ab. Haben sie noch ein Zimmer frei, frage ich.
Und sie machen Urlaub hier, sagt Eva, deren Namen ich jetzt weiß. Ich habe mich zu ihr an den Tresen gesetzt. Eigentlich war es mehr eine Frage als eine Feststellung. Ich zucke die Schultern. So ähnlich, ja.
Im Gastraum ist immer noch fast niemand. Nur hinten an einem Tisch sitzen ein paar alte Männer, die Karten spielen. Eva stellt Gläser auf ein Tablett und füllt sie bis fast zum Rand. Sie bewegt sich langsam und unbeholfen. Etwas schwappt über den Rand und ich höre, wie sie sich dafür entschuldigt. Ich bin die schlechteste Kellnerin der Welt, sagt sie und lacht.
Sie lacht sehr oft. Sie gerät dabei immer ein bisschen außer Atem und die roten Flecken auf der blassen Haut ihres Gesichts verstärken sich.
Ich hatte nicht vor, ihr das zu erzählen, aber jetzt sage ich: Ich warte auf eine Freundin…
…sie kommt mit dem Schiff, sobald der Sommer beginnt.
Noch ist ja gar nicht Sommer. Eva schaut mich fragend an.
Ich zucke wieder die Schultern.
…
Wie es weitergeht, können Sie in unserer Anthologie „Schicksal und Geschick“ nachlesen, die 2017 im Geest-Verlag erschienen ist unter der ISBN 978-3-86685-624-2.