„Begegnung in der Hotelhalle“ von Janine Frey wurde bei den Donnersberger Literaturtagen 2007 ausgezeichnet mit dem Susanne-Faschon-Preis. Hier ein Auszug aus dem Text:
„Sie standen sich gegenüber, nach all den Jahren standen sie sich gegenüber. In dieser kleinen Hotelhalle, in diesem alten, schäbigen Hotel. Er war aus dem halbdunklen Raum, in dem feierlich gedeckte Tische einer vielleicht nie kommenden Festtagsgesellschaft harrten, in die beleuchtete Halle getreten. Die leisen Schritte hatten sie, jäh aus ihren müßigen Gedanken gerissen und von der Erinnerung eingeholt, aufblicken lassen. Sie standen sich gegenüber. Stumm und erstarrt wie die beiden griechischen Säulen, die die Theke der verwaisten Rezeption schmückten. Überbleibsel. Hölzern und verstaubt.
Er ist alt geworden, dachte sie, während sie zu ihm hochsah und die lichten Stellen bemerkte. Das weiße Haar steht ihm nicht. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, welche Farbe es früher gehabt hatte: Tiefschwarz war es gewesen. Die Sonne hatte es zum Leuchten gebracht, an jenem Tag auf der Bergwiese, inmitten bunter Blumen und eingerahmt von den aufragenden, in den Wolken verschwindenden Gipfeln.
Sie ist alt geworden, dachte er und sah auf sie hinunter. Ihr Haar ist weiß wie das meine, keine Spur mehr von den wilden Engelslocken, die sie damals hatte, an jenem nie vergessenen Tag. Eine Dame war sie geworden, reich durch das Geld eines anderen. Er versuchte unter dem seidenen Kleid mit dem teuren Pelzmantel, dem mit fremden Federn geschmückten Hut und dem auf jung getrimmten Gesicht mit den erstarrten Zügen das junge Mädchen wieder zu erkennen, das zusammen mit ihm im duftenden Gras der Bergwiese gelegen und seinen Worten gelauscht hatte, als erzähle er ein schönes Märchen. Und ein Märchen waren sie geblieben, die Luftschlösser, die sie damals gemeinsam gebaut hatten. Begonnen hatte es mit diesen Märchen, aber für ihn waren sie zu einem Albtraum geworden.
Der alten, abgenutzte Sessel neben ihr war frei. Ein leerer Platz an ihrer Seite, über dem fast greifbar ein allgegenwärtiger Schatten lag.
Wird er mich fragen?, überlegte sie. Wird er mich endlich fragen warum? Sie hatte sich eine Antwort zurecht-gelegt, damals. Aber er hatte nicht gekämpft. Hatte sie nur angesehen und war dann gegangen. War mit hängenden Schultern einfach gegangen und hatte sie einem anderen überlassen.
Wie viele Jahre sind seither vergangen?, fragte er sich. Er hatte sie gezählt, aber jetzt war es, als wären sie nie gewesen. Lange Jahre voll quälender Fragen. Er hatte sie seit damals nicht mehr gesehen. Er hatte sich überlegt, was er zu ihr sagen würde, aber auch die zurechtgelegten Wörter waren verschwunden. Auf einmal waren sie unwichtig. Jetzt, wo sie sich gegenüberstanden, spielte es keine Rolle mehr, warum. Ihm war, als fiele endlich eine schwere Last von ihm.“
Mit einem dumpfen Laut klappte das Buch zu. Es ist doch immer dasselbe, dachte sie, beugte sich vor und steckte den abgegriffenen Roman in ihre Handtasche. Alles nur Fiktion. Alles nur erfunden. So etwas passiert doch nicht in Wirklichkeit. Sie stand auf und strich den feinen Stoff ihres blauen Sommerkleides glatt. Griff nach der Handtasche und warf einen kurzen Blick auf das seltsame Paar am anderen Ende der Hotelhalle, jenseits des schmalen, grünen Teppichs, der sich wie ein leuchtendes Band über den gefliesten Boden bis zur Rezeption zog und den Fußboden in zwei Hälften teilte. Ihre Hälfte war in helles Sonnenlicht getaucht, die andere gesprenkelt mit einem Muster aus Helligkeit und Schatten. Eine ältere Frau und ein älterer Mann. Sie, offenbar wohlhabend mit matten Augen, er, zerknittert wie nach einer langen Reise, aber aufrecht als hätte er sein Ziel endlich erreicht. Sie sahen sich an, als würden sie sich kennen, aber sie sagten kein Wort. Wirklich ein seltsames Paar. Ihr Blick streifte das Gemälde über dem Kopf der alten Dame. Ein seltsamer Stilmix: Eine düstere Berglandschaft in Öl zwischen zwei griechischen Säulen. Sie schüttelte den Kopf. Dann drehte sie sich um, ging den grünen Teppich entlang und verließ die Hotelhalle durch die altmodische, gläserne Drehtür. Ein nach Frühling riechender Windhauch verfing sich in ihren blonden, lockigen Haaren. Auf sie wartete der Zug in die Berge.
Wie es weitergeht, können Sie in unserer Anthologie „ZimmerLautStärke“ nachlesen …