„Wolkenstraße“ von Elisabeth Lang wurde bei den Donnersberger Literaturtagen 2011 ausgezeichnet mit dem Susanne-Faschon-Preis. Hier ein Auszug aus dem Text:
Regungslos steht sie da. Einzig ihr tiefblaues Kleid weht im Wind. Ihre Hände liegen auf dem eisernen Geländer. Er geht auf sie zu. Sie muss ihn hören, doch sie dreht sich nicht um. Langsam steigt er über das Geländer und stellt sich, ohne sie anzusehen, neben sie. Schließlich dreht sie den Kopf, sieht ihn an. Sie mustert ihn von oben bis unten, dreht den Kopf wieder zur Mitte und schaut nach unten.
„Wo willst du hin?!“ Seine Stimme zerreißt die natürliche Stille. „Ich will dahin gehen, wo sie hingegangen sind.“ Ihre Stimme klingt anders, als er gedacht hat. Irgendwie fest, bestimmt, nicht zittrig, schwach oder ängstlich. „Wer sind sie?“ – „Alle.“ – „Und wer sind alle?“ – „Alle, die ich geliebt habe.“ – „Mh. Warum sind sie weggegangen?“ – „Es war ein Unfall.“ – „Das tut mir leid.“ – „Was willst du hier?“ – „Mit dir reden.“ – „Warum? Wir kennen uns nicht.“ – „Ich weiß, aber ich muss dich etwas fragen.“ – „Dann frag halt.“ Sie hebt den Blick und sieht ihm direkt in die blauen Augen. Er ist attraktiv, aber das ist es nicht, was sie bannt. Es ist sein Mund, dessen Mundwinkel auch im entspannten Zustand nach oben zeigen. So sieht es aus, als mache er sich über sie lustig. Doch noch bevor sie den Blick senken kann, sagt er: „Du willst da nicht ernsthaft runterspringen?“ – „Doch, warum nicht?“ – „Du bist verrückt! So etwas macht man nicht.“ – „Ich kenne dich nicht, warum willst du mir das vorschreiben?“ – „Wie kannst du das tun? Es gibt bestimmt irgendjemanden, der dich liebt und der noch lebt. Und der dich vermissen wird, wenn du weg bist.“ – „Na und? Was ist mit mir? Ich bin egal, oder was? Ich darf schließlich leben, während alle anderen das nicht mehr dürfen. Ist das nicht ungerecht?“ – „Du kannst doch dich nicht dafür bestrafen, dass du lebst. Was denkst du überhaupt, was dort unten sein wird, wenn du gesprungen bist?“ – „Wolken.“ – „Unten sollen Wolken sein? Dann müsste der Aufprall ja federleicht sein.“ – „Ist er auch. In dem Moment, in dem ich den Asphalt berühre, werde ich eintauchen in eine andere Welt.“ – „Woher weißt du das?“ – „Ich habe sie gesehen.“ – „Die andere Welt?“ – „Ja.“ – „Wie willst du sie gesehen haben?“ – „Ich war dort.“ – „Und wie bist du hingekommen?“ – „Der Unfall. Ich wurde wieder rausgeschmissen, alle anderen sind da geblieben.“ – „Das tut mir leid.“ – „Mir auch.“ – „Nein, mir tut doch nicht leid, dass du wiedergekommen bist, sondern dass die anderen dort geblieben sind.“ – „Mir beides.“ – „So etwas sagt man nicht.“ – „Hör auf mich zu erziehen“, sagt sie im genervten Ton …
Wie es weitergeht, können Sie in unserer Anthologie „Aufbruch“ nachlesen, die im November 2013 im Geest-Verlag erschienen ist unter der ISBN 978-3-86685-436-9.