„Ich Gerettete“ von Vivian Tekin wurde bei den Donnersberger Literaturtagen 2019 ausgezeichnet mit dem Susanne-Faschon-Preis. Hier ein Auszug aus dem Text:
England, Sommer 1947
Wir hätten es wissen können, als Papa seine Approbation entzogen wurde. Wissen sollen, als Mama und ich den Namen Sara annehmen mussten, als die Farbe Gelb eine ganz neue Bedeutung bekam. Wissen müssen, als der Laster vor der Haustür stand. Wir hätten etwas tun müssen, aber das konnte wir nicht, dort. Und jetzt ist alles zu spät.
Ich sitze am Rande des Teiches. Langsam tauche ich meine Hand hinein. Das Wasser schmiegt sich kühl und glatt um meine Haut, wie ein Handschuh, seidig und weich. Ich atme die Sommerluft ein, sie riecht nach Flieder und Frieden. Ich schließe die Augen, lege die andere Hand auf meine Brust, spüre das Pochen, meines stätigen Herzschlag. Ich mache das täglich seit damals, mich vergewissern, dass ich noch lebe, Nein, dass ich noch am Leben bin, denn ich glaube, ich habe zu leben verlernt. Das Zimmer, das Tante Grace für mich hergerichtet hat, ist sehr schön, mit seinen weißen Möbeln und den blassblauen Wänden. Das Bett hat einen weißen Himmel und die Matratze ist sehr weich, dennoch schlafe ich ganz am Rand, die Decke bedeckt kaum meinen Körper. Ich habe es wirklich versucht, aber ich habe zwei Jahre lang so mit sechs Frauen auf einer Pritsche geschlafen. Immer ganz rechts und Mama neben mir. In der Mitte war es immer am wärmsten, aber auch so furchtbar eng. Ich kann nicht weiter nach links rücken, in die Mitte des Bettes, weil das Mamas Platz ist. Mamas Platz war. Meine Finger umschließen das silberne Medaillon, das mir Tante Grace und Onkle Sam zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt haben mit einer Fotografie von Papa und Mama mit mir als Baby auf dem Arm. Papa hatte es ihr einst geschickt. Ich habe alles verloren. Den Koffer, den wir packen durften, habe ich, seit ich in den Zug gestiegen bin, steigen musste, nicht wiedergesehen. Alle Kleider, die ich trage, haben Tante Grace und Josephine genäht, alles was ich hier benutze, ist hier in London gekauft, ich bin mit nichts als dem Kleid und dem braunen Mantel hierhergekommen und selbst die gehörten eigentlich Tante Grace. Halt, etwas habe ich von dort mitgenommen, denke ich zynisch und ziehe den linken Ärmel meiner roten Strickjacke herunter. Es ist ein warmer Nachmittag, der Himmel ist blau, die Sonne scheint golden, alles ist ganz wunderbar, als wenn es nie Krieg gegeben hätte. Fast. Aber das ist mir egal. Ich trage immer eine Strickjacke, wie ich immer Kekse in meiner Jackentasche habe. Ich taste nach den Keksen, ja sie sind noch da. Ich ziehe die Jacke fester um meine Schulter, mir ist nie richtig warm. Warmer Sommerwind umspielt mein schwarzes Haar. Ich streiche es mir hinters Ohr. Es reicht mir fast schon wieder bis zur Schulter, lockig und weich von zwei Spangen gehalten, leicht nach Lavendelseife riechend. Es ist immer noch ungewohnt. Seife und warmes Wasser, wann immer ich will. Lachen erklingt, ich drehe den Kopf Richtung Haus, die Terrassentür ist auf, Tante Grace und Onkel Sam sitzen am Kaffeetisch zusammen mit Josephine, ihrem Mann William und ihrem Baby. Ben kann ich nirgendwo sehen, vielleicht ist er mit Lady spazieren. Lachen ist so ungewohnt. Einfaches, fröhliches Lachen, nicht das kalte, sadistische der Aufseher…
Wie es weitergeht, können Sie in unserer Anthologie „Aufbruch“ nachlesen, die im November 2013 im Geest-Verlag erschienen ist unter der ISBN 978-3-86685-436-9.