„Ins Morgenland“ von Jannick Mielke wurde bei den Donnersberger Literaturtagen 2015 mit dem 2. Preis ausgezeichnet. Hier ein Auszug aus dem Text:
Darunter: weiße Masse, ein leeres Blatt, ein blinkender Cursor, kurzum: nichts.
Sie lehnt sich zurück und seufzt frustriert, nimmt einen Schluck Kaffee und blickt aus dem Fenster. Um sie herum: Dunkelheit. Unten: Vereinzelte Lichter. Innenraum: kaum Beleuchtung, kaum Geräusche, keine Durchsagen, die Stille der Reisenden. Nachtflug 391: Berlin – Tel Aviv.
Ihr Boss hat sie überredet, hat ihr quasi keine Chance gelassen: „Stell dir das vor! Eine ganze Artikelreihe, einer wöchentlich, du kriegst die vierte, nein dritte Seite der Samstagsausgabe: Ins Morgenland – Sechs Monate im Nahen Osten. Das hebt uns mal von den anderen Blättern ab, eine echte Auslandskorrespondentin …“
Und sie hat zugestimmt, hat zugestimmt zu einem halben Jahr: Israel, Jordanien, Irak, Kuwait …
Zählt Israel überhaupt zum Morgenland? Irgendwie nicht wirklich, was ihr durch den Kopf schießt, sind Namen wie Persien, Bagdad, Samarkand …
Samarkand? Das ist doch irgendwo weit im Osten, viel zu weit für sie, dahin geht die Reise nicht. Wenn es die Stadt überhaupt noch gibt.
Sie legt den Kopf ans Fenster und schließt für einen Moment die Augen, es ist größtenteils ruhig, der Laptop auf dem Tischchen vor ihr brummt, die Maschinen des Airbus´ summen um sie herum, schön einschläfernd. Aber morgen soll doch schon der erste Artikel fertig sein, ohne überhaupt angekommen zu sein, unter dem Titel Erwartungen.
Nicht so einfach, das Ganze. Irgendwo hat sie sich Fragen notiert, die Standardausgabe, wenn nach Fremdem gefragt wird: Welche Vorstellungen hast du? Worauf freust du dich? etc. etc.
Ziemlich schäbig, immer dieselbe Liste abzuarbeiten, egal, wie schön sie es stilistisch verflicht, es fällt auf – wenn auch nur ihr – und es stört sie. Trotzdem, Anfänge waren schon immer ihre Krux, ja, sie kann viel schreiben und schnell, wenn sie erst einmal „drin“ ist, im Schreibfluss, aber anzufangen, das kostet jedes Mal Überwindung. Also, die Vorstellungen.
Es kommen die Kindheitsbilder hoch, die die das Herz schneller schlagen ließen und sie quasi dazu zwangen, den Job anzunehmen, egal, wie die Bedingungen sind: Dschinne, Sultane in Palästen, Gewürze, Basare, der klischeebeladene fliegende Teppich im Nachthimmel, darauf krummsäbelschwingende Helden. Das Morgenland in der romantischen Fantasie des Kindes, das sie vor noch gar nicht so langer Zeit war, in den klassischen Mythen aus Tausendundeiner Nacht, aus Aladdin und den anderen Kinderbüchern. Es sind schöne Ideen, aber die Realität lässt sie zerbersten wie eine Seifenblase, dazu reicht schon ein Blick in die Nachrichten: Ölbohrungen, diplomatische Treffen, Präsidenten in noch größeren Palästen, Diktatoren, der klischeebeladene Panzer unter heißer Sonne, darin gewehrschwingende Soldaten, das sind die Bilder von heute, die das moderne Morgenland in den Augen der meisten bestimmen.
Das mögen genauso stilisierende, diesmal negativ verklärende Fantasien sein, aber sind sie nicht die deutlich realistischeren? Realismus – das ist ehrlich gesagt ein Wort, das ihr ganz und gar nicht gefällt.
Sie schlägt die Augen auf und sinkt noch tiefer in den Sessel, nippt am Pappbecher mit Kaffee – Flugzeugkaffee, scheußlich – und blickt auf die Uhr: 23:47. Seit Stunden unterwegs – vom Zug ins Taxi in den Flieger – und immer noch das weiße Blatt. Auch das passt nicht so recht in die Kindheitsträume einer Arbeit bei der Zeitung; die Reporterin im zum Teil abenteuerlichen Einsatz, immer mit gutem Ausgang, die hat keine leeren Blätter, wenn sie etwas schreiben soll.
…
Wie es weitergeht, können Sie in unserer Anthologie „Schicksal und Geschick“ nachlesen, die 2021 im Geest-Verlag erschienen ist unter der ISBN 978-3-86685-624-2.